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Zurück in meiner Heimatstadt startete ich meinen ersten Job nach dem Studium. Ich arbeitete als Gesundheitspädagogin in einem Projekt zur Gesundheitsförderung und Suchtprävention bei älteren, pflegebedürftigen Menschen. In den ersten Jahren eineinhalb Jahren durfte ich Pflege- und Betreuungskräfte sensibilisieren und schulen. Ja wozu denn? Was kann ich dieser Berufsgruppe noch erzählen? Wofür soll ich, die gerade frisch aus dem Studium kommt, sie, die teilweise seit Jahrzehnten in diesem Job arbeiten, noch sensibilisieren? Wenn doch schon jemand alles gesehen und erlebt hatte, dann Pflege- und Betreuungskräfte in der Altenpflege!

Mein Gefühl ließ mich auch nicht im Stich. So schnell ließen sich die Pfleger*innen und Betreuungskräfte nämlich nicht aus der Bahn werfen, geschweige denn überhaupt beeindrucken. Denn auch unser Thema stieß erstmal auf Skepsis, Kritik und Augenrollen und immer wieder auf die Aussage: „Das lohnt sich nicht mehr.“

Sucht im Alter.

Mit diesem Tabuthema war ich mit unserer Schulung von Pflegeeinrichtung zu Pflegeeinrichtung und von Ambulantem Pflegedienst zum nächsten unterwegs. Die Begeisterung hielt sich oft in Grenzen, und breitete sich, wenn dann nur bei der Leitung aus, die mich und das Thema ins Haus geholt hatte. So habe ich mich also vor die Mitarbeiter*innen stellen dürfen und ihnen nichts Neues erzählt – gehört übermäßiger Alkohol-, Medikamenten- und Tabakkonsum doch schon fast zu ihrem normalen Berufsalltag. Nichts Neues also – bis auf zwei Dinge:

  1. Wir werden nicht von jetzt auf gleich süchtig, und jeden Tag ein Gläschen Wein macht noch niemanden zum Alkoholiker. Es passiert schleichend, oft unbemerkt und immer ungewollt. Bis zur Abhängigkeit durchläuft der oder die Betroffene verschiedene Konsumstadien.
  2. Apropos ungewollt. Niemand beginnt mit dem Trinken von Alkohol, mit der Einnahme von Medikamenten, mit dem Rauchen von Marihuana oder dem Ausprobieren anderer Mittel mit dem bewussten WILLEN, davon süchtig oder abhängig zu werden. Ein übermäßiger Konsums, der in der Abhängigkeit enden kann, hat zu Beginn immer eine positive Absicht: Unangenehme Gefühle und Situationen zu dämpfen und sich zu betäuben, weil es sich im Rauschzustand besser anfühlt, abschalten vom Alltag, frei und ungehemmt fühlen.

Klingt erstmal gar nicht so schlimm, wenn da nicht die Folgen und Konsequenzen der Abhängigkeit wären. Außerdem kann es jeden und jede treffen. Vor Abhängigkeit, was übrigens eine anerkannte Krankheit ist, schützt weder der soziale Status, noch der Kontostand, noch eine gute Erziehung, noch ein sicherer Job, und ja noch nicht einmal eine langjährige Lebenserfahrung.

Was Menschen brauchen, die abhängig von Suchtmitteln wurden, ist Verständnis und Mitgefühl. Und – deswegen war ich ja auch mit meinen Schulungen unterwegs – jemanden, der sensibilisiert ist und erkennt, dass es den betroffenen Menschen womöglich nicht gut geht, dass es Unterstützung gibt und sie diese annehmen dürfen, wenn sie das möchten. Und vor allem: Es lohnt sicher immer!!

Risiken mit Suchtmitteln im Alter.

Aber was ist das nun mit dem Alter? Im Alter wird nun ja wirklich niemand mehr süchtig, oder? Leider falsch. Zum einen gibt es Mittel, die wir im Alter zu uns nehmen, welche aber das Risiko bereits in sich tragen, dass unser Körper sich an diesen Wirkstoff gewöhnt – Suchtmittel eben. Dann wiederum gibt es Faktoren, die das Risiko in sich tragen, dass wir gerade im Alter überhaupt zu solchen Mitteln greifen – Risikofaktoren eben.

Da stand ich nun Woche um Woche in meinen Schulungen und erzählte den Pflege- und Betreuungskräften aus der Altenpflege etwas über Sucht im Alter, über die Risiken von Suchtmitteln und die Risikofaktoren für einen Konsumstart im Alter. Und immer mit der Bitte, sie mögen doch bei ihren Patient*innen ein Auge darauf werfen und intervenieren, wenn möglich.
Na toll, noch etwas, was die Pflege richten soll. Sie hatte ja noch nicht genug zu tun! – Man bedenke, das war alles noch vor der Corona-Pandemie.

Für Fragen stehe ich noch zu Verfügung, aber damit war mein Job getan. Unzufrieden und ohnmächtig verließ ich die Einrichtung.

Ein Gedanke wurde stärker und stärker und ließ mich nicht los:

ICH BIN ZU SPÄT !!

Wenn es Faktoren gibt, die uns im Alter dazu bringen können, Mittel einzunehmen, damit wir unangenehme Gefühle betäuben und uns vermeintlich besser fühlen? Und wenn diese Mittel einen Wirkstoff in sich tragen, woran sich unser Körper gewöhnen kann und uns dadurch psychisch als auch körperlich Schaden zufügt? Und diese Einnahme und Gewöhnung dafür sorgt, dass wir frühzeitig sterben und dass das Leben so bis zum Tod voller Leid, Trauer, Scham, Schuld und Schmerz ist? Ja auch, dass wir zu einem Tabuthema werden und alle um uns herum unsere Situation nur noch ertragen, die Augen verschließen und wir zuletzt auch, und wir warten, bis es endlich zu Ende geht? Und wenn ich aber diese Risikofaktoren und Suchtmittel kenne, ist es dann nicht meine Pflicht und Aufgabe, die Menschen dann zu erreichen, BEVOR es „zu spät“ ist, sie auf diese Lebensphase vorzubereiten, sie zu stärken und sie frühzeitig Alternativen überlegen zu lassen, anstatt sie unvorbereitet ins offene Messer laufen zu lassen?

JA, ist es! Und genau deswegen schreibe ich diesen Blog.

Sucht im Alter: ein Tabuthema.

Risiken mit Suchtmitteln im Alter: verharmlost.

Risikofaktoren für den Beginn einer Sucht: heruntergespielt.

Die Risiken im Alter für den Konsum von Suchtmitteln sind so simpel und nahe liegend, wie es zu vermuten ist:

Renteneintritt, Strukturverlust, Einsamkeit, finanzielle Einbußen, Wiedererleben von Traumata, das Miterleben der eigenen Vergänglichkeit und steigender Unterstützungsbedarf.

Der Konsum beginnt, weil wir Zeit haben, weil wir uns langweilen, weil wir nicht mehr gebraucht werden, weil wir über Vergangenes nachdenken, weil wir uns betäuben wollen, weil einfach vieles so besser zu ertragen ist.

Früher oder später sind wir alle mit diesen Faktoren des Älterwerdens konfrontiert. Und darum ist es so wichtig, dass wir frühzeitig darüber sprechen, uns Gedanken machen, Ideen entwickeln und uns immer wieder die gleichen Fragen stellen: Wie möchtest Du im Alter leben? Wie soll es Dir im Alter gehen? Auf welches Leben möchtest Du zurückblicken?

Und: Was kannst Du heute schon dafür tun?

Ja, auch das Älterwerden birgt Herausforderungen und gelingt nicht einfach so nebenher. Neu ist das nicht. Aber je früher wir uns bewusst mit unserem eigenen Älterwerden beschäftigen, Pläne schmieden, Ziele stecken, Strukturen schaffen und andere Menschen mitreißen, desto besser gelingt uns auch dieser Lebensabschnitt. Auch das ist nicht neu. Wir müssen es allerdings TUN und die Gefahr dabei ist: Lebensfreude, Wohlbefinden und Gesundheit bis ins hohe Alter. Haben Sie Mut? Machen Sie mit?

Herzlichst,

Catharina M. Klein