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Drei Jahre lang habe ich in einer Pflegeschule Unterricht gegeben – von 2018 bis 2021.

Der Impuls für diesen Unterricht kam durch meine Schulungen zum Thema „Sucht im Alter“ bei bereits examinierten Pflegekräften in Altenpflegeeinrichtungen. Je länger ich diese Schulungen gab, desto deutlicher zeigte es sich, dass Pflegekräfte bereits in ihrer Ausbildung mit diesem Thema konfrontiert werden sollten, um entsprechend vorbereitet zu sein.

Ganz schön naiv von uns so zu denken. Bereits im ersten Unterricht wurden wir eines Besseren belehrt. Wir, das war mein damaliger Chef, welcher über 30 Jahre Arbeitserfahrung in der Suchthilfe-/prävention mitbrachte und ich, welche sich gerade in ihrem ersten Job zurechtfand. Fokussiert war unsere Arbeit auf legale Suchtmitteln wie Alkohol, Medikamenten, Tabak sowie Glücksspiel. Mit diesem Fokus schulten wir auch die Pflegekräfte und ab jetzt auch Pflegeschüler*innen.

Wir begannen mit unsere Standard-Einstiegsfrage: „Welche Erfahrungen haben Sie bereits mit Suchtmittelkonsum im Alter, also bei Ihren Patient*innen gemacht?“

Kaum hatten wir die Fragen ausgesprochen, prasselten uns die Erfahrungen nur so um die Ohren. Erfahrungen mit eben diesen legalen Suchtmitteln. Alles lief wie erwartet. Doch plötzlich kippte die Stimmung.

„Einer meiner Patienten muss sich ständig ein Joint reinziehen, um seine Psychosen besser ertragen zu können“, erzählte ein Schüler.

„Letztens war ich bei einer Patientin. Ich arbeite auch in der Obdachlosenversorgung. Deren Suchtdruck war so groß, sie konnte es nicht mehr aushalten. Ich musste ihr zusehen, wie sie sich einen Schuss in den Arm gegeben hat. Erst dann konnte ich sie behandeln“, berichtete eine Schülern. Einige Schüler*innen nickten, andere schauten hilflos ins Leere.

Da standen wir mit unseren legalen Suchtmitteln und kamen uns so bescheuert vor. Wir standen vor Pflegeschüler*innen unterschiedlichstem Alter, die sich dazu entschieden hatten, den so wichtigen, aber viel zu wenig anerkanntem Beruf der Pflege auszuüben. Und wir dachten, wir müssten sie in der Ausbildung schon auf ihren Job vorbereiten. Welch Verzerrung der Realität.

Was uns also übrig blieb, war noch die Sensibilisierung auf die Ursachen eines übermäßigen Suchtmittelkonsums und den möglichst empathischen Umgang mit betroffenen Personen. Pflichtprogramm war für uns auch immer die verschiedenen Konsumstadien zu beschreiben, welche den Weg zur tatsächlichen Abhängigkeit ebneten. Last but not least durfte ein psychologischer Faktor nicht fehlen: Veränderung IST möglich, wenn der/die Betroffene das auch WILL und die Motivation entsprechend ausgerichtet ist! Und: es lohnt sich – auch im Alter!

Zum Glück nahmen die Schüler*innen von unserem Unterricht ein bisschen mehr Einblick in die Thematik mit und konnten auch ihr eigenes Verhalten etwas reflektieren. Es kamen spannende Diskussionen zustande. Immerhin doch nicht alles umsonst und wir konnten den Schüler*innen immerhin den Raum geben, über Ihre Erfahrungen zu sprechen, sich darüber auszutauschen und Fragen zu stellen.

So setzte sich das für zwei Jahre fort. Und unabhängig davon, welchen Kurs und Jahrgang ich unterrichtete, ein Eindruck verstärkte sich in mir immer mehr – und dann kam Corona…

Da mein Unterricht damals noch nicht zum offiziellen Lehr-Curriculum gehörte, wurde er aufgrund von Corona im Frühjahr 2020 für ein halbes Jahr ausgesetzt. Im Herbst 2020 durfte ich wieder unterrichten. Zeitgleich begann ich auch einen neuen Job an einem Freiburger Forschungsinstitut. Mein Job war es hier die Erfahrungen der Corona-Pandemie in der Altenpflege zu untersuchen. Zielgruppen waren neben Bewohner*innen von Einrichtungen, deren Angehörigen auch Pflegekräfte und Leitungen zu befragen, wie es ihnen in der ersten Pandemie-Phase von März bis Juni 2020 erging. Der Unterricht in der Pflegeschule und der Kontakt zu den Schüler*innen kam mir also wie gerufen.

Ich änderte meine Einstiegsfrage: „Wie geht es Ihnen? Was erleben Sie gerade? Und wie kommen Sie damit zurecht?“

Große, verblüffte Augen schauten mich an, hatten sie doch ein ganz anderes Thema und sicherlich nicht diese Fragen erwartet.

„Das hat uns hier bisher und auf diese Weise noch keiner gefragt“, staunte eine Schülerin.

Mein Gedanken dazu war schlicht: Was soll ich ihnen über Suchtmittelkonsum und dessen Risiko erzählen, wenn gerade ganz andere Themen oben anstehen. Ich wollte ihnen das Mindeste an Anerkennung und Aufmerksamkeit schenken, was mir in meiner Rolle möglich war.

Sie erzählten mir, wie belastend die Situation in der Praxis gerade ist, dass sie kaum jemanden haben, mit dem sie über die Erlebnisse sprechen können, es geschweige denn Raum dafür gibt, dass sie keine Kraft mehr haben und dass die Unterricht-Blockwochen für sie Urlaub bedeuten.

Dass Schule zu Urlaub wird – manch Revolutionär*innen im deutschen Bildungssystem würden sich freuen. Dass es allerdings auf diese Weise geschehen muss, würden auch sie vehement kritisieren.

Nach längerem Austausch darüber, was sie belastet und worüber sie sich ärgern, versuchte ich den Fokus zu ändern: „Neben all dem, was sie erleben, was klappt denn gut und was sind positive Momente in Ihrer Arbeit?“

Die Schüler*innen schauten mich ungläubig und irritiert an – Stille. Dann hebt eine Schülerin langsam ihre Hand. Mit ruhiger aber beständiger Stimme sagte sie: „Wissen Sie, das klingt vielleicht hart, aber es ist die Wahrheit. Ich zieh das hier noch durch, aber dann bin ich weg!“ Ihre Mitschüler*innen schauten erst mich an, dann blickten sie beschämt auf ihre Unterlagen und nickten kaum merklich.

Mir schoss nur ein Gedanke durch den Kopf, was meinen Eindruck von den Jahren zuvor bestätigte:

Was diese Menschen bereits in ihrer Ausbildung erleben müssen, ist ein Skandal! Unter diesen Arbeitsbedingungen und ohne öffentliche Anerkennung für das, was sie Tag für Tag leisten, werden sie bereits in ihrer Ausbildung verheizt. Da braucht sich keiner mehr wundern, wieso wir keinen Pflegekräfte-Nachwuchs haben. Oder würdest Du diesen Job unter diesen Bedingungen ausüben, ja geschweige denn erstmal lernen wollen?

Ich selbst bin Tochter einer Krankenschwester. Über 50 Jahre hat meine Mutter diesen Job mit Herzblut, Liebe und voller Hingabe ausgeführt, davon fast 20 Jahre in der Notaufnahme. 30 Jahre durfte ich bei ihr beobachten und miterleben, mit welcher Freude sie in 99,9% der Fälle zur Arbeit fuhr. Mein Bild über die Pflege war also vorwiegend positiv, schließlich hatte meine Mutter – neben warnenden Worten („Zieh einen Helm an!“), auch immer spannende Geschichten zu erzählen. Meine Mutter lebte und liebte ihre Berufung. Immer wenn ich Beschwerden aus der Pflege hörte, dachte ich, stellt euch nicht so an, meine Mutter macht diesen Job auch und sie beklagt sich nicht so laut wie ihr. Doch ähnliches erzählte auch meine Mutter: „Die Arbeitseinstellung hat sich verändert. Es ist nicht mehr so wie früher. Die Jungen sind nicht mehr mit so viel Herzblut dabei, wie wir es damals waren. Wenn Feierabend ist, lassen sie ihr Zeug fallen und sind weg.“

Vielleicht mag das sein. Vielleicht haben viele auch aus anderen Berufsständen recht, dass wir Jungen manchmal nicht so motiviert an der Arbeit sind. Doch vielleicht liegt es einfach daran, dass wir inzwischen einen größeren Anspruch an unsere Arbeitsumgebung haben, gesehen werden wollen und sich unsere sogenannte „Work-Life-Balance“ Richtung „Life“ bewegt hat. Nun gut, hier mögen sich viele die Frage stellen – auch ich stelle sie mir: „Was war zuerst da? Henne oder Ei?“ Aber das wäre jetzt ein anderes Thema.

Zurück zu meinen Pflegeschüler*innen.

Nicht alle hatten die Hoffnung und die Freude an ihrer Arbeit verloren. „Alles wollen wir nicht schlecht reden. Manchmal ist es auch das Lächeln der Bewohner*innen, wenn wir die Tür hineinkommen, das Dankeschön nach dem Rücken eincremen und der tiefe, beruhigende Blick in die Augen, die mich stärken und mich weiter machen lassen. Wir arbeiten im Schatten der Gesellschaft, auf der Seite des Leids. Da mag keiner so richtig hinschauen. Ohne diese kleinen Lichtblicke am Tag, wäre unsere Arbeit eine rein traurige Angelegenheit. Es gibt Menschen in unserer Arbeit, die sich nur beschweren – in mehrfacher Hinsicht, das haben die wahrscheinlich ihr ganzen Leben schon gemacht. Zuletzt trifft es dann aber uns und das belastet uns und unsere Arbeit.“

Nach diesen Erfahrungen mit den Pflegeschüler*innen bin ich davon überzeugt, dass wir mit unserem Lebensstil maßgeblich an den Arbeitsbedingungen der Pflegekräfte mitverantwortlich sind. Wir sind mitverantwortlich, ob diese Lust auf ihren Job haben, ob wir sie auf körperliche und psychische Weise fordern oder sie entlasten, ob sie Freude haben mit uns zu arbeiten oder schon mit schlechter Laune hereinkommen, ob wir ihren Dienst dankend annehmen oder uns beschweren.

Eines kann ich sagen: Ich will, dass meine späteren Pflegekräfte sich freuen zu mir zu kommen. Dass sie schon am Tag zuvor sagen: „Oh wie schön, morgen bin ich wieder bei Frau Klein!“ und dass sie bei der Verabschiedung sagen: „Frau Klein, es ist schön bei Ihnen. Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Sie sind einer meiner Lichtblicke am Tag.“

Doch damit das geschieht, liegt es an mir, wie ich mit mir im Laufe meines Lebens und schließlich mit ihnen umgehe, wie ich mir selbst begegne und wie ich meinen Unterstützer*innen begegne. Ich sehe hierin eine win-win-Situation für beide Seiten und daher setze ich mich dafür ein, dass Pflegekräfte eine Stimme bekommen und noch viel mehr, dass wir uns frühzeitig und proaktiv mit unserem eigenen Älterwerden beschäftigen. Wenn wir wissen, wie wir im Alter leben wollen, wer wir im Alter sein wollen und wie wir mit uns und anderen bestmöglich umgehen können, dann leisten wir einen enormen Beitrag nicht nur für unser Wohlbefinden, sondern besonders auch für die Arbeitssituation für alle Pflege- und Betreuungskräfte da draußen.

Ich denke, es wird Zeit, dass wir uns gezielt Fragen stellen und nicht nur stellen, sondern diese auch für uns beantworten:

Wer möchtest du sein, wenn du Unterstützung und Hilfe erhältst?

Was erwartest Du für deine Pflege?

Welche Qualität der Pflege, meinst Du, steht Dir zu?

Was ist Dein Beitrag für eine hohe Qualität an pflegerischer Versorgung?

Der Abschluss des Unterrichts blieb über die Jahre derselbe: „Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, für Ihr aktives Einbringen, den Austausch, die Diskussionen, den unverschönten Einblick in Ihre Arbeit. Und haben Sie vielen herzlichen Dank für Ihren täglichen Einsatz und Ihr Engagement!“