Lesezeit: 5 Minuten.
Mein erster Job: Gesundheitspädagogin in einem Präventionsprojekt; verantwortlich für die Umsetzung, die Koordination, die Organisation und für die Dokumentation.
Doch mir fehlte eines: Erfahrung. Nein, nein, nicht Erfahrung Dinge zu regeln und in die Wege zu leiten, Telefonate zu führen und Protokolle zu schreiben. Das konnte ich so mehr oder weniger. Was mir fehlte, war der Kontakt zu alten, pflegebedürftigen Menschen. Denn darum ging es in dem Projekt: Gesundheitsförderung und Suchtprävention bei älteren, pflegebedürftigen Menschen.
Also rauf aufs Pferd, oder viel mehr ab in den Berufsalltag der Altenpflege. Ein, zwei Tage hospitieren, mitlaufen, einen Einblick bekommen und lernen.
So fuhr ich eines Nachmittags mit auf die Tour eines ambulanten Pflegedienstes. Wir besuchten alte Menschen mit unterschiedlichem Pflegebedarf. Die einen benötigten nur die Medikamentengabe, die anderen wurden gewaschen und wieder andere brauchten Hilfe im An- und Ausziehen von Pyjama oder Stützstrümpfen.
Als ich abends nach Hause kam, kam mir der Gedanke: Ich möchte niemals alt werden! Ich will nicht, dass eine fremde Person zu mir nach Hause kommen muss, um mir in meinen Pyjama zu helfen oder um mir Medikamente zu geben, und das nur, weil ich selbst nicht mehr in der Lage dazu bin. Ich will das nicht!
Das klingt hart, unfair, aber so war es.
… 2 Jahre später …
Inzwischen besuchte ich regelmäßig Tagespflegeeinrichtungen und Pflegeheime und bekam mehr und mehr direkten Kontakt zu älteren, pflegebedürftigen Menschen. Ich unterhielt mich mit ihnen, lernte sie kennen und erfuhr so viel über ihr Leben, ihre Einstellungen, ihre Höhen und Tiefen.
Ich bekam Kontakt zu Menschen, die ihr Leben gemeistert haben und es jeden Tag aufs Neue meistern. Die das Positive in den kleinen Dingen sehen. Die immer wieder aufgestanden sind, wenn das Leben und seine Herausforderungen sie zu Boden schmissen.
Ich war interessiert und hatte sie immer wieder gefragt: „Was hat Sie weitermachen lassen? Wo haben Sie Ihre Kraft hergenommen? Welche Motivation hatten Sie?“
Und die Antworten waren immer dieselben, egal wen ich fragte: „Wir mussten ja doch weitermachen! Es blieb uns doch gar nichts anderes übrig!“ Oder aber auch: „Mein Glaube und meine Gebete haben mir geholfen. Und die Kraft, die ich bekommen habe, konnte ich weitergeben, auch an andere. Ich konnte stark sein für mich und andere!“
So langsam wurde ich mir einer Sache bewusst: Diese Menschen, diese alt gewordenen Menschen, haben – und ganz egal, wie sie ihr Leben bisher verbracht haben, sei es als Professor, Handwerker, Hausfrau & Mutter, Pflegekraft, Schneiderin oder Postmann – diese Menschen haben etwas Großes geleistet! Sie haben das Leben so angenommen, wie es ihnen gegeben wurde und sie haben sich nicht unterkriegen lassen. Und wenn sie nun Hilfe brauchen, egal welcher Art, sollen sie diese auch erhalten!
Einst, kurz vor Weihnachten saß ich dann im Pflegeheim mit „meinen Alten“ zusammen und wir sprachen über unsere Weihnachtswünsche.
„Gesundheit“, „lange selbstständig bleiben“, „Frieden in der Welt“ waren ihre Antworten.
An diesem Tag im Pflegeheim hatte ich ausnahmsweise und das erste Mal die Bewohnerliste vor mir liegen – mit Geburtsdaten.
Ich schaute auf die Liste und als ich so die verschiedenen Geburtsdaten überblickte, fiel mir einer besonders ins Auge: „Das ist ja interessant. Diese eine Dame ist gerade mal zwei Jahre jünger als meine Großmutter.“
Und dann schoss mir ein zweiter Gedanke durch den Kopf. „Stop! Meine Großmutter ist schon seit über 14 Jahren verstorben und meine Großmutter wurde ganz schön alt!“
Ich schaute nochmal auf das Geburtsdatum, um mich zu versichern, dass ich auch richtig gelesen habe. Das hatte ich. Ich schaute die Damen an, dann das Geburtsdatum, dann wieder die Dame. So ging das etwa fünf, sechs Mal hin und her. Mir verschlag es die Sprache. Ich stammelte etwas Unverständliches und bekam Tränen in die Augen. Irgendwann konnte ich meine Gedanken in Worte fassen: „Sind Sie wirklich, sind Sie wirklich … wirklich 101 Jahre alt??“
Die Dame, die erst seit einem halben Jahr in dem Pflegeheim wohnte, schaute mich etwas irritiert an und erwiderte: „Ich? Was? Achsoo, ja, ich bin 101 Jahre alt.“
Sie sagte es so, als ob es nichts Normaleres geben würde.
Diese Dame und alle anderen älteren und pflegebedürftigen Menschen haben mich beeindruckt, berührt und eines Besseren belehrt: Alt werden lohnt sich und das Leben im Alter ist sehr wohl lebenswert!
Eine weitere Sache wurde mir dabei aber auch bewusst: Es liegt in meiner Verantwortung, wie ich alt werde. Nicht alles, aber doch vieles kann ich selbst beeinflussen. Immer wieder aufstehen, weitermachen und positiv bleiben! Und wenn Gesundheit und Selbstständigkeit das ist, was wir uns wohl im Alter (wieder) wünschen, dann muss ich heute schon damit anfangen, den Weg dafür zu ebnen.
Herzlichst,
Catharina M. Klein
PS: Ich möchte sehr wohl alt werden, sehr alt sogar! 🙂